Expertenflut

Expertenflut

Expertenflut 4256 2832 Andreas Scheuermann

Jeder Mensch ist ein Künstler“, behauptete Joseph Beuys vor rund 40 Jahren. Heute würde er vielleicht feststellen: Jeder Mensch ist ein Experte. Zumindest in den Medien scheint es grenzenlosen Bedarf und gleichermaßen unerschöpflichen Zustrom an Sachkundigen zu geben. Ob für Terrorismus oder Börsengeschehen, Arbeitsmarkt oder Königshäuser – Experten sind in vielen Themengebieten gefragt. Inklusive zahlreicher Medienschaffender selbst, die zu einem Expertenstatus gelangt sind.

Es gibt handfeste Gründe dafür, als Experte wahrgenommen werden zu wollen.

Expertise, sprich Kompetenz in einer Sache ist ein Wirtschaftsgut, das sich vermarkten lässt.

Und in hoch wettbewerblichen Marktumfeldern ist sie zur quantitativ notwendigen Aufmerksamkeit die qualitativ notwendige Komponente, sich vom Feld abzusetzen. Es ist also nützlich, sich als Experte zu präsentieren. Mit der Verbreitung der sozialen Medien ist zudem jeder Mensch auch noch sein eigenes Medium geworden. Und so erleben wir eine Flut selbst ernannter und künstlich geschaffener Experten.

Doch was macht eigentlich einen Experten aus? Im Duden ist der Experte als „Sachverständiger, Fachmann, Kenner“ verzeichnet. Die lateinische Bedeutung des Begriffes „expertus“ wird bei im PONS- Lexikon mit „erfahren, erprobt, bewährt“ übersetzt. Das wirft Fragen auf. Welches Maß an Sachverstand, an Beschäftigung, an Erfahrung in einem Thema ist nötig, um den Expertenstatus zu erlangen. Wie erprobt sind die Erkenntnisse und Ratschläge, die Menschen von sich geben?

Unter Bezug auf Arbeiten des Psychologen Eric Andersson veröffentlichte der Journalist (!) Malcolm Gladwell vor einigen Jahren seine sogenannte 10.000-Stunden-Regel. Dabei stellt er die Behauptung auf, man müsse nur genügend Zeit in eine Sache investieren, und werde nach der kalkulierbaren Investition von 10.000 Stunden zum Experten. Andersson selbst verwahrte sich übrigens öffentlich gegen eine vereinfachte und verfälschte Interpretation seiner Forschung.

10.000 Stunden?

Doch gehen wir dem Gedanken einen Moment nach. Rechnen wir die 10.000 Stunden in einen achtstündigen Arbeitstag um, dann wären wir alle nach rund fünfeinhalb Jahren Experten dessen, was wir täglich tun. Mein Freund Volkmar Zimmermann lächelt milde, als ich ihm den Gedanken vorstelle. Er ist nach eigener Auskunft „Gitarrenspieler“ und hadert per se etwas mit dem Begriff des Experten.
Was er jedoch auf seinem Instrument produziert (z.B. hier mit Kristian Gantriis), bringt ihm höchste Anerkennung der Fachwelt ein. Fünfeinhalb Jahre wären nicht genug gewesen, dieses fachliche Niveau zu erreichen. Auf die Frage, wie lang man denn brauche, um diese „Expertise“ zu entwickeln, kommt die ernüchternde Antwort:

„Es hört niemals auf“.

Doch vielleicht ist die Materie mit Gitarrenkunst einfach zu speziell gewählt. Warum nicht einen Blick auf eher alltägliche Tätigkeiten richten? Brötchen verkaufen, Busse fahren, Eingangsrechnungen prüfen. Spontan würden wir niemanden, der solche Dinge beruflich tut, als Experten bezeichnen. Selbst die beste Busfahrerin der Welt oder den Brezelverkäufer mit dem höchsten Umsatz nicht. (Es sei denn, wir gehörten zum Kreise der Recruiting-Experten, die aus dem Müllkutscher den „Experten für öffentliche Sauberkeit“ machen.)

Es gehört also mehr dazu, ein Experte zu sein.

Vermutlich mehr als 10.000 Stunden Zeitaufwand, jedenfalls auch mehr als die Befassung mit irgendeiner Sache.

Unter medialen Gesichtspunkten würden wir dem Brezelverkauf vermutlich die Relevanz absprechen.   Der Vorgang erscheint uns so banal, dass eben gar keine Expertise nötig oder auch möglich ist. Geld – Brezel. Deal. Dies bedeutet umgekehrt, dass Expertise erst dann ins Spiel kommt, wenn Dinge nicht mehr selbsterklärend sind. Wenn sie komplex, kompliziert oder zumindest fremd sind. Wenn wir auf Wissen angewiesen sind, das nicht zu unserem Alltagsbestand gehört.

Welt voller Wissen.

Doch wo fangen wir an. Die Welt ist schließlich übervoll an Wissen zu den vielfältigsten Dingen. Etwa zum Herbstzug der Heckenbraunelle. Es ist offensichtlich: Die mediale Präsentation von Experten kann da nur einen kleinen Ausschnitt abbilden. Umso wichtiger ist allerdings die Frage: Worüber reden Medien, und mit wem? Und: Auf welcher Grundlage entscheiden diejenigen, die Experten zu Wort kommen lassen? Haben Sie selbst überhaupt hinreichend Sachkenntnis, eine solche Auswahl zu treffen – mit Edmund Stoiber gesprochen: Die Kompetenzkompetenz?

Die Praxis ist oft ernüchternd.

Experten sind in den Medien diejenigen, die telegen erklären und schnell Plausibilität erzeugen können.

Kritisch formuliert: Eine Aussage muss nicht stimmen, nur stimmig klingen. Darüber hinaus erleben wir vermehrt, dass Expertise nicht nur stimmig klingen muss, sie muss häufig auch eine vorgefasste Wahrheit bestätigen. Der Experte verschafft keinen Erkenntnisgewinn, löst kein Nachdenken und keine vertiefende Betrachtung aus, sondern liefert schlichte und energiesparend die Bestätigung bestehender Meinung. Ende der Geschichte. Medial präsentierte Expertise degeneriert so zum rein atmosphärischen Gefälligkeitsgutachten. Eine Gesellschaft mit unermesslichen Wissensbeständen begnügt sich zu oft mit wohlfeil präsentiertem Halbwissen oder tendenziös zugeschnittenen Informationen. Die Kunst liegt im Auge des Betrachters, sagt ein Sprichwort. Die Expertise ebenso? Jeder ist ein Experte, alles ist richtig?

Zur Ehrenrettung von Joseph Beuys muss gesagt werden, dass er oft verkürzt wiedergegeben und damit in der Regel falsch eingeordnet wird. Zur These, dass jeder Mensch ein Künstler sei, macht er selbst klar: „Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt“. Greifen wir diesen Gedanken auf, so haben wir auch einen Ansatzpunkt für den Umgang mit Experten. Wir können gerne jedem zugestehen, das Potenzial zum Experten in sich zu tragen. Wir müssen aber dort, wo wir Expertise zum Bestandteil unserer Informationsbeschaffung und zur Entscheidungsgrundlage machen nach der Qualität der Expertise fragen.

Die sprachlichen Definitionsmerkmale „erfahren, erprobt, bewährt“ weisen dabei die Richtung. Präziser werden wir durch eine Besinnung auf die Kernelemente der Wissenschaftlichen Methodik: Die sorgfältige Analyse und Beobachtung von Geschehnissen, die Formulierung von Vermutungen, die wir selbst einer skeptischen Prüfung unterziehen. Schließlich die Messung unter Beachtung der Gütekriterien von Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Unabhängigkeit, die uns zu unseren Schlussfolgerungen führt.

Können also nur Wissenschaftler Experten sein?

Nein, man muss profunde Praxis nicht verachten oder negieren. Allerdings erleben wir in einer sich ausbreitenden Wissensgesellschaft die stetig weitere Erforschung und Durchdringung unterschiedlichster Aspekte des Lebens. Wir lernen uns und die Welt immer weiter kennen. Die uns zur Verfügung stehende Expertise wächst. Unser Bedürfnis nach Welterklärung durch Experten wächst mit. Aber wonach entscheiden wir dann, auf wessen Expertise wir uns verlassen sollen? Die einfachste und nahe liegende Frage an einen Experten lautet für mich:

Woher weißt Du das?

Im direkten Gespräch können Experten ihre Materie meist besser erklären, als in den vorgefassten Formaten der Medien. Wer im Denken und Wissen wirklich weiterkommen will, der sollte sich deshalb nicht mit der medialen Aufbereitung von Experten und Wissen begnügen, sondern den direkten Zugang suchen. Dabei trennt sich dann auch meist die Spreu vom Weizen.

 

Foto: Tom Bayer, AdobeStock