Social Media Illusionen

Social Media Illusionen

Social Media Illusionen 1222 815 Andreas Scheuermann

„Was meinen Sie, muss ich auch bei Twitter mitmachen?“ Diese Frage stellen mir Kunden immer wieder, und sie erübrigt sich fast selbst. Meine spontane Antwort lautet immer: „Nein, wenn Sie es nicht wollen, dann lassen Sie es einfach.“ Die Frage ist allerdings – jetzt wird es spitzfindig – nicht vollständig zu trennen von der sehr ähnlich klingenden Frage: „Muss eine Führungskraft auf Social Media präsent sein“. Im Fachmagazin PR-Report entbrannte zuletzt ein heftiger Streit genau zu dieser Frage. Hier zum Nachlesen: Nein sagt Jürgen Braatz, ja sagt Stephanie Tönjes.

Der Social-Media-Zauber

In der Praxis sieht es so aus: Sie sitzen bei einer Konferenz in der fünften Reihe und lauschen gespannt dem Vortrag des Hochkaräters auf dem Podium, und plötzlich twittert dieser auf eine magische Art und Weise im selben Moment einen bahnbrechenden Satz, den er zwei Minuten später tatsächlich auch sagen wird. Ist das schon Künstliche Intelligenz? Oder doch der sehr junge Anzugträger aus der ersten Reihe?

Praktisch keine Führungskraft der DAX-Welt bearbeitet den eigenen Social-Media-Account persönlich.

Am ehesten transparent agieren Politikerinnen und Politiker. Hier sind die Tweets oft gekennzeichnet, wenn Sie von der Person selbst, oder eben doch „nur“ vom Team stammen.

Authentizität ist eine Illusion

Wie schlimm ist das also, dass uns eine Person vorgegaukelt wird, die so gar nicht existiert? Und finden wir unser scheinbar unstillbares Bedürfnis nach Authentizität hier überhaupt befriedigt, oder braucht es das noch viel authentischere Live-Erlebnis, von dem dann natürlich Selfies gepostet werden? Die Social-Media-Katze beißt sich in den Schwanz.

Authentizität, die „Echtheit“ ist bei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schon immer eine Illusion gewesen.

Social Media hat diese Illusion nur verstärkt und um ein paar Komponenten ergänzt. Zum Beispiel um den Aspekt der „parasozialen Interaktion“. Ich folge der wichtigen Person XY auf Sozialen Medien, kommentiere vielleicht gelegentlich und meine, mich in irgendeiner Weise ihrem Ökosystem zurechnen zu dürfen.

Die self-fullfilling prophecy

Eine weitere Illusion von Social Media ist der selbstgeschaffene Zirkelschluss von Aktualität und Bedeutsamkeit. Von Medien sind wir gewohnt und darauf konditioniert, dass Veröffentlichtes eine Bedeutung haben muss. Zugleich haben wir gelernt, dass medial Veröffentlichtes einen Neuigkeitswert hat. In den sozialen Medien verbinden sich beide Schlussfolgerungen, ohne dass es dafür noch einen Grund geben muss. Das wiederum macht uns glauben, dass wir selbst unsere eigene Bedeutung dadurch steigern können, zu „Veröffentlichern“ zu werden. Denn der unendliche breite Strom sekündlicher Impulse erweckt bei uns Nutzern den Eindruck, dass wir uns auf dem Kamm einer Welle bewegen. Tatsächlich sind wir nicht mehr als kleine Wassertropfen, umgeben von anderen kleinen Wassertropfen, die den Gezeiten folgen.

Die Nutzer

Social Media hat das Kommunikationsverhalten vieler Menschen massiv verändert. Nicht ohne Ironie kann man festhalten, dass der Begriff „User“ im Englischen auch für Drogensüchtige, freundlicher formuliert „Abhängige“ verwendet wird. Sind wir tatsächlich abhängig von Social Media? Sicherlich sind wir als soziale Wesen abhängig von Kommunikation. Wir wollen informiert sein, mitreden können, uns austauschen, uns im sozialen Gefüge kalibrieren und unsere Zugehörigkeit verspüren. Hin und wieder wollen wir auch einmal ein wenig mehr Aufmerksamkeit für uns selbst erlangen. Aber sind wir dazu auf bestimmte Kanäle angewiesen?

Social Media im Wandel

Die Sozialen Medien entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Kohorten- und Zielgruppen-Produkte.

Als Facebook neu und einzigartig war, wollten alle dort sein. Doch einen kollektiven Wunsch nach der einen Plattform, auf der man mit allen Menschen verbunden sein könnte, scheint es nicht zu geben. Mittlerweile hat das soziale Netzwerk  in Europa vermutlich seinen Scheitelpunkt erreicht, und verliert wieder Nutzer. Nicht umsonst hat der US-Konzern bereits 2014 für den stolzen Betrag von 19 Milliarden $ den Nachrichtendienst Whatsapp gekauft. Die Technologie dürfte dabei weniger bedeutsam gewesen sein als die 450 Millionen tendenziell jüngeren Nutzer. Neben klassischen Netzwerken und Messengern haben sich Foto- und Videoportale breit gemacht, und immer neue Apps mit immer lustigeren Features drängeln sich auf dem Smartphone und wollen ein Stück vom Reichweiten-Kuchen abhaben.

Medien und Social Media

Nicht zuletzt versuchen soziale Medien, tatsächlich sozial wirksam zu werden, sich selbst zu Medien oder zu Communities zu formen, denen man dauerhaft treu bleiben soll. Karrierenetzwerke wie LinkedIn und XING bauen eigene Redaktionen auf und bieten Unternehmen agenturähnliche Leistungen, verbunden mit medienähnlichen Reichweiten-Zusagen und zielgruppenspezifischen Content-Ansätzen. Das Wort Strategie will ich in diesem Zusammenhang vermeiden. Klassische Medien geraten weiter unter Zugzwang, wehren sich gegen die kostenlose Nutzung ihrer äußerst kostenintensiven Inhalte und buhlen doch zugleich selbst um Nutzer. Sie sind eine verhängnisvolle Symbiose eingegangen, in der der Pulsschlag der digitalen Kanäle alles steuert: „Es muss klicken“.

Führungskräfte und Social Media

Kann man sich als Führungskraft den sozialen Medien entziehen? Man kann.

Auch wenn immer wieder behauptet wird, es gäbe eine Vorbildfunktion für Digitalkompetenz, die es wahrzunehmen gelte. Die gibt es, sie hängt aber nicht von der Nutzung sozialer Medien ab. So sucht man nach einem eigenen Twitter- oder LinkedIn-Account des SAP-Mitbegründers und Acatech-Kuratoriumsvorsitzenden Henning Kagermann vergeblich. Und auch DFKI-Gründungsdirektor Wolfgang Wahlster spart sich die Aufregung. Beiden würden nur sehr wagemutige Menschen die Digitalkompetenz absprechen.

Illusion und Wirklichkeit

Bleibt die Frage, warum ich selbst meine gefühlt siebzehn Accounts und Apps noch nicht gelöscht habe? Die Antwort: Ich lebe von Kommunikation. Ich könnte darüber schlecht schreiben, wenn ich nicht selbst damit arbeiten würde. Ich könnte auch nicht dazu beraten, wenn ich es nicht selbst anwenden würde. Nur bedeutet das nicht, dass ich mich Illusionen hingebe, was die nachhaltige Wirkung von Social Media betrifft. Es gibt Dinge, die funktionieren dort sehr gut und Dinge, die funktionieren dort gar nicht. Und es gibt immer mehr und verschiedene Kanäle, die schlicht auf Wirksamkeit für die eigenen Ziele geprüft werden müssen. Das ist oft genug profanes Handwerk. Deshalb gilt: Der Social Media Manager ist leider viel zu oft eine Version des Callcenter-Agents im Direktvertrieb des 21. Jahrhunderts. Es steht Dialog drauf, aber es ist „Outbound“ drin. Streuverlust und Seriositätsproblem inbegriffen.

Von den drei Definitionen, die der Duden für das Wort Illusion anbietet, ist die letzte übrigens die charmanteste: „Täuschung durch die Wirkung eines Kunstwerks, das Darstellung als Wirklichkeit erleben lässt“. Die Illusion wird dadurch noch gesteigert, dass die wenigsten Führungskräfte tatsächlich persönlich ihre Accounts pflegen. Für mich steht fest: Solche Illusionen zu erzeugen ist solange vertretbar, wie inszenierte Darstellung und „echte“ Wirklichkeit bestmöglich zur Deckung gebracht werden. Kommunikationsprofis wissen, dass darin die eigentliche Kunst besteht.

 

Foto:  Ekaterina Kuznetsova on Unsplash